Blick auf die Schlei. © nucleon e. V./Rettet die Schlei
Rettet die Schlei – und schützt die Menschen, die dort leben und wohnen. Und zwar mithilfe digitaler Technologien: Das ist die Idee, die nucleon e. V. seit 2019 verfolgt. In kurzer Zeit haben die Macher des Vereins damals ein erstes Hochwasser-Warnsystem mit Sensoren und LoRaWAN-Funktechnologie auf Open Data Basis installiert. Jede und jeder kann seither online und in Echtzeit einsehen, wo und wie an der Schlei die Pegel steigen, ein digitales Warnsystem ist implementiert. Doch damit nicht genug: Nun ist ein noch umfassenderes Monitoring geplant, die Stufe zwei. „Bei der ersten Projektstufe geht es darum, die Menschen an der Schlei vor drohendem Hochwasser zu retten“, sagt Heinrich Rode, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit des Vereins und gemeinsam mit dem Vorsitzenden Frank Radzio die treibende Kraft hinter dem Projekt. „In Zukunft wollen wir nicht mehr nur die Pegel messen, sondern uns direkt mit der Qualität des Wassers beschäftigen. Wir wollen uns also wirklich um den Zustand der Schlei kümmern.“ Wassertemperatur, Fließgeschwindigkeit und Nitratbelastung sind Parameter, die dafür mithilfe von Sensoren gemessen und mithilfe digitaler Übertragungstechnologien ausgewertet werden könnten.
Die Schlei im Norden Schleswig-Holsteins wird auch als Förde bezeichnet, also ein in der Eiszeit entstandener, ins Binnenland ragender Meeresarm. Von Schleswig im Binnenland bis zur Ostsee bei Schleimünde sind es rund 42 Kilometer, dazwischen liegen malerische Orte wie Kappeln, wo das ZDF über Jahrzehnte die Serie „Der Landarzt“ drehte, und die Jahr für Jahr Tausende von Touristinnen und Touristen anziehen. „Die Schlei hat einen Zugang zur Ostsee bei Schleimünde – aber keinen anderen Ausgang. Das Wasser, das bei Schleimünde reinkommt, muss dort also auch wieder raus“, sagt Heinrich Rode. Das kann bei einer Sturmflut zum Risiko werden, wenn das Ostseewasser in die Schlei gedrückt wird und sich vor allem an Engstellen aufstaut. Arnis, mit 300 Einwohnerinnen und Einwohnern die kleinste Stadt Deutschlands, liegt an einer solchen Engstelle – und zudem auf einer Halbinsel, zu der es nur einen Zugangsweg gibt. 2019 lebten auch Heinrich Rode und seine Frau hier. „Anfang des Jahres gab es eine leichte Sturmflut. Durch einen Wasserdurchbruch bei Schleimünde ist der Pegel stündlich gestiegen“, erinnert er sich. Viele Gärten standen unter Wasser, große Teile der Ortschaft waren überflutet. „Die Halbinsel ist aber nur so lange Halbinsel, wie das Hochwasser nicht bis zu einer bestimmten Stelle steigt. Danach kommt man ohne Boot nicht mehr weg“, schildert Rode die drohende Gefahr. Zwar ging 2019 in Arnis alles insgesamt glimpflich aus. Dennoch schlossen sich damals einige Anwohner zusammen und beratschlagten, wie sich der Hochwasserschutz verbessern lässt. „Da kam uns die Idee, die neue LoRaWAN-Technologie, mit der wir uns gerade beschäftigt hatten, auch zu diesem Zweck einzusetzen.“
Die Motivation dahinter kann Rode kurz und knapp auf den Punkt bringen: „Die Menschen haben Angst um ihr Hab und Gut.“ Noch immer seien Überlieferungen über die „Jahrtausendflut“ 1872 präsent, die an der Schlei wie an der gesamten Ostseeküste immense Schäden anrichtete. Außerdem sei infolge des Klimawandels damit zu rechnen, dass schwere Sturmfluten in Zukunft noch häufiger auftreten, Prognosen zufolge könnte der Wasserspiegel bis zum Jahr 2100 um einen bis 1,5 Meter steigen. Die Menschen rechtzeitig zu warnen, wird daher zunehmend wichtiger. Technisch funktioniert das so: Ultraschallsensoren zwei Meter über der Wasseroberfläche messen an acht verschiedenen Standorten den Pegel der Schlei. Mithilfe der LoRaWAN-Technologie werden diese Informationen über Gateways quasi in Echtzeit an einen Server übertragen, der diese auswertet und grafisch darstellt. „Wenn das Wasser steigt, kann man dadurch Menschen im Vorfeld warnen – rechtzeitig warnen“, sagt Rode. Auf rettet-die-schlei.de sind die Daten der Sensoren live abrufbar. „Das Einzigartige an unserem System ist, dass es von Bürgern für Bürger gebaut ist und dass wir auf offene, freie Technologie zugreifen. Wir haben keinen großen Apparat dahinter, der erst diskutieren muss, sondern können schnell agieren“, ergänzt Frank Radzio. Seit Beginn arbeite man aber mit der Schleswig-Holstein Netz AG zusammen, deren Gateways für das Projekt mitgenutzt werden.
„Wir sind meines Wissens die ersten, die LoRaWAN in dieser Größenordnung fürs Gewässermonitoring einsetzen.“
Heinrich Rode
Ob Konzeption, Installation, Betrieb oder selbst die Wartung der Sensoren, die Reinigung und der Austausch der Akkus: All das übernehmen die aktiven Mitglieder des nucleon e. V. ehrenamtlich. Natürlich geht das nicht ohne die entsprechende Expertise. Heinrich Rode selbst hat vor seiner Pensionierung 30 Jahre in der IT gearbeitet und sich regelmäßig in neue Anwendungen eingearbeitet – so wie jetzt in die Vorteile und Möglichkeiten von LoRaWAN. Das steht kurz für Low Power Wide Area Network, eine Funktechnologie, die das energieeffiziente Senden von Datenpaketen auch über weitere Entfernungen ermöglicht. So kann er Beispiele aufzählen, wie etwa Viehhalter mittels LoRaWAN Gesundheitszustand und Aufenthaltsort ihrer Rinder auf einer großen Weide monitoren, oder wie Stadtwerke mithilfe von Sensoren den Füllstand von Müllcontainern messen und die Routen der Müllautos entsprechend optimieren. Vorbilder aus dem Bereich Hochwasserschutz gibt es in der Form aber nicht. „Es gibt wohl Installationen an kleineren Bächen. Aber wir sind meines Wissens die ersten, die LoRaWAN in dieser Größenordnung fürs Gewässermonitoring einsetzen“, erzählt er. Im Juni 2022 wurde Rettet die Schlei dafür als „Digitaler Ort im Land der Ideen“ ausgezeichnet.
Doch das soll noch lange nicht der Schlusspunkt sein. Ganz im Gegenteil ist die Auszeichnung für die Macher eher ein Ansporn, das Projekt weiter voranzutreiben und das Monitoring der Schlei auch auf die Wasserqualität und damit verbundene Parameter auszubauen. Hauptsächlich gehe es dabei zur Zeit um drei große Themen, fasst Rode zusammen: Überdüngen die Landwirte ihre Äcker und gelangen dadurch zu viele Nitrate ins Gewässer? Was ist aus dem Plastikskandal geworden, als vor einigen Jahren über eine Kläranlage gehäckselte Plastikschnitzel in die Schlei gerieten? Und wie schädigen die Rückstände einer bereits in den 1950er Jahren geschlossenen Teerpappenfabrik bis heute die Schlei? Die Messergebnisse sollen – wie aktuell beim Hochwassermonitoring – gesammelt, ausgewertet und nach dem Open-Data-Prinzip über definierte Schnittstellen Partnern wie Technischen Hochschulen, Universitäten, Kommunen, dem Kreis oder auch Landesprojekten zur Verfügung gestellt werden. Noch hängt das aber vor allem an der Finanzierung. Während alle aktuell installierten Sensoren plus die zur Auswertung nötige Hardware zusammen nicht mehr als 3.000 Euro gekostet haben, schlagen die geplanten neuen Messvorrichtungen mit 25.000 Euro pro Stück plus Mehrwertsteuer zu Buche. „Wir wollen zum Anfang an fünf Punkten sogenannte Messtationen, kleine schwimmende Inseln kleiner als ein Quadratmeter, installieren, die ihre Sensoren unterhalb dieser Plattform ins Wasser halten. Das können wir nicht alles selbst entwickeln. Wir brauchen also professionelle Hardware in Industriequalität“, schildert Heinrich Rode die Pläne. „Das können wir als Verein mit unter 20 Mitgliedern nicht stemmen.“ Dabei geht es beim Vorhaben ums große Ganze: „Wenn es der Schlei besser geht, geht es auch den Anrainern und Urlaubern, den Pflanzen und den Tieren hier gut.“
Digitale Projekte auf dem Land sichtbar machen und die Köpfe dahinter untereinander vernetzen – das sind die gemeinsamen Ziele von Deutscher Glasfaser und der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“. Daher wurde dieses Jahr erstmalig der Innovationswettbewerb „Digitale Orte im Land der Ideen“ ausgerufen. Aus 200 Einreichungen wurden im Juni 2022 die Gewinnerprojekte geehrt – Rettet die Schlei ist eines der zehn Projekte, die dabei ausgezeichnet wurden. Mehr Informationen zum Wettbewerb – etwa zur Ausschreibung, zur hochkarätigen Jury und zu den Preisträgern – finden Sie hier.