Im KI-Leuchtturmprojekt „Künstliche Intelligenz für klimaneutrale Kläranlagen“ arbeitet Dr. Matthias Stier daran, wie sich mithilfe Künstliche Intelligenz schädliche Lachgase messen und reduzieren lassen. © Variolytics
In dem Verbundprojekt „Künstliche Intelligenz für klimaneutrale Kläranlagen“, kurz KIkKa, arbeiten vier Partner an dem Ziel, die Treibhausgase aus der kommunalen Abwasserreinigung mithilfe von Sensoren und Künstlicher Intelligenz zu reduzieren. Wie das funktioniert, welche Rolle die Technologie auf dem Weg zur Klimaneutralität spielt und wie Kommunen damit Energiekosten sparen können, erklärt Dr. Matthias Stier im Interview. Er ist Mitgründer von Variolytics, ein Stuttgarter Start-up, das die Hard- und Software für die Optimierung der Kläranlagen entwickelt.
Herr Dr. Stier, welches Problem möchten Sie gemeinsam mit Ihren Projektpartnern lösen?
Kurz gesagt, geht es um Lachgas, das bei der Abwasserreinigung entsteht. Lachgas gehört zu den Treibhausgasen und ist rund 300-mal klimaschädlicher als CO2. Schätzungen gehen davon aus, dass die in Kläranlagen entstehenden Emissionen von Lachgas rund zwei Prozent der globalen CO2-Äquivalenten-Emissionen ausmachen. Damit stoßen Kläranlagen ähnlich viel Treibhausgase aus wie die Luftfahrtindustrie.
Das klingt beeindruckend. Warum ist das nicht längst Thema in der öffentlichen Diskussion?
Die Langzeitstudien dazu wurden erst in den vergangenen Jahren veröffentlicht. Das Thema nimmt jetzt langsam an Fahrt auf, in Wissenschaft und Politik ist es angekommen. In der letzten überarbeiteten Version der EU-Richtlinie über die Behandlung von kommunalem Abwasser sind die direkten Emissionen von Kläranlagen in Form von Lachgas und Methan erstmals namentlich erwähnt worden, verbunden mit einem verpflichtenden Monitoring. Jetzt geht es darum, mehr Erkenntnisse zu gewinnen, um darauf aufbauend Kläranlagen zu optimieren. Mit unserem Forschungsprojekt übernehmen wir eine Vorreiterrolle. In dem ein oder anderen Zeitungsartikel taucht das Thema inzwischen auf. Wichtig ist: Es geht nicht darum, die Kläranlagen an den Pranger zu stellen. Sie haben eine ganz zentrale Aufgabe: Wasser zu reinigen. Die Treibhausgasemissionen sind eine Begleiterscheinung.
Diese Treibhausgase möchten Sie gemeinsam mit Ihren Projektpatern mithilfe von Sensoren und Künstlicher Intelligenz reduzieren. Wie genau soll das funktionieren?
Lassen Sie mich kurz ausholen: Die biologischen Vorgänge in Kläranlagen sind hochkomplex. Im sogenannten Belebungsbecken sorgen Bakterien dafür, dass die Verunreinigungen im Wasser abgebaut werden. Damit dieser Prozess funktioniert, wird dem System Sauerstoff zugeführt. Durch den Stoffwechsel der Bakterien kann es zur Lachgasbildung kommen. Allerdings ist der Effekt nicht immer gleich, es gibt saisonale Unterschiede: So haben wir im Winter und in den Übergangsjahreszeiten hohe Emissionen und im Sommer fast keine. Das zeigt, dass der Zustand „keine Emissionen“ möglich ist. Wenn wir die Lachgasemissionen reduzieren möchten, müssen wir die richtigen Stellschrauben finden, um – salopp gesagt – für die Bakterien immer Sommer einzustellen.
Und dafür nutzen Sie Sensoren und Künstliche Intelligenz…
Genauso ist es. Letztendlich geht es darum, den Bakterien die exakt richtige Menge an Sauerstoff zur Verfügung zu stellen. Denn sowohl zu viel als auch zu wenig Sauerstoff führt zur Lachgasbildung. Damit wir die Belüftung optimal an das System anpassen können, benötigen wir erst einmal jede Menge Daten, unter anderem zu den entstehenden Lachgasen. Dafür haben wir eine Messtechnik mit hochauflösenden Sensoren entwickelt, die es erstmals ermöglicht, die Gase gleichzeitig im Abwasser zu messen als auch in der Abluft. Insgesamt ergibt sich ein komplexes Parameter-Set, das quasi den menschlichen Verstand überschreitet. Und da kommt die KI ins Spiel: Mit den Daten, die wir über einen Zeitraum von einem Jahr sammeln, trainieren wir ein Künstliches Neuronales Netzwerk und erstellen einen digitalen Zwilling der Kläranlage. Damit können wir den gesamten Prozess simulieren und sind in der Lage, den optimalen Prozesszustand zu ermitteln. Entsprechend lässt sich die Sauerstoffzufuhr steuern.
Wenn Kommunen das System einsetzen möchten: Welcher Aufwand ist damit verbunden?
Hier spielen verschiedene Aspekte eine Rolle. Punkt eins: Was die Kostenseite angeht, sind wir mit unserem System sehr günstig. Wir gehen davon aus, dass sich durch die Optimierung der Kläranlagen etwa 50 Prozent der Gesamtemissionen vermeiden lassen. Das bedeutet: Bei einer Kläranlage, die das Abwasser von etwa 100.000 Einwohnern reinigt, kostet die Reduktion einer Tonne CO2-Äquivalent etwa 30 Euro. Hinzukommt: Lachgas entsteht meistens durch Überbelüftung. Wenn wir also die Belüftung reduzieren, sinken auch die Energiekosten. Das birgt ein enormes Sparpotenzial für die Kommunen. Für viele sind Kläranlagen der größte Energieverbraucher. Und etwa 60 Prozent der Energiekosten sind der Belüftung der Belebungsbecken zuzurechnen.
Sie sprachen von mehreren Aspekten…
Richtig. Wenn man nach dem Aufwand fragt, müssen wir uns auch anschauen, welche Möglichkeiten zur CO2-Reduktion die Kommunen insgesamt haben. Zum Maßnahmenkatalog zählen zum Beispiel E-Ladestationen, Fahrradstreifen, Vermeidung von Autoverkehr. Das Problem: In der Regel hat man mindestens eine Bevölkerungsgruppe, die dagegen ist. Bei der Optimierung von Kläranlagen ist das anderes. Jeder Mensch beansprucht sie mehr oder weniger gleich viel – egal ob arm oder reich. Letztendlich bekommt kaum einer etwas von einer Optimierung mit. Und wenn doch, dürften es doch alle gut finden. Es ist also kaum mit Widerstand zu rechnen. Nimmt man hinzu, dass sich die Maßnahme technisch schnell umsetzen lässt, und sich die Kosten in Grenzen halten, ist es ein gutes Beispiel dafür, wie man in kurzer Zeit einen hohen Impact erzielen kann. Sicherlich ist die Optimierung von Kläranlagen nur ein Puzzleteil auf dem Weg zur klimaneutralen Kommune – aber eines, das sich schnell einsetzen lässt. Denken wir noch mal an die Luftfahrt, die für ähnlich viel Treibhaugase verantwortlich ist. Hier dürfte die Reduktion deutlich schwieriger sein.
Interessant ist auch folgendes Zahlenspiel: Weltweit gibt es etwa 60.000 Kläranlagen, in Europa sind es 25.000, in Deutschland 10.000. Die großen Anlagen machen 3,7 Prozent der Kläranlagen aus, reinigen aber 50 Prozent des Gesamtabwassers. Die nächstkleineren Kläranlagen machen ungefähr 21 Prozent aus und reinigen 40 Prozent des Abwasseraufkommens. Das heißt: Ein Viertel der Kläranlagen reinigt 90 Prozent des Abwassers. Wir müssen also längst nicht alle Kläranlage optimieren, und haben trotzdem einen hohen Impact.
Ist das System denn bereits in großem Stil einsatzbereit?
Daran arbeiten wir in dem Forschungsprojekt. Aktuell benötigt jede Kläranlage noch eine individuelle Lösung. Unser Ziel ist eine Lösung, die sich schnell und unkompliziert auf jede Kläranlage übertragen lässt. So möchten wir im ersten Schritt die größten Kläranlagen in Deutschland optimieren, im zweiten dann die in Europa.
Das Projekt „Künstliche Intelligenz für klimaneutrale Kläranlagen“ wird vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) unter dem Förderprogramm „KI-Leuchttürme für Umwelt, Klima, Natur und Ressourcen“ mit rund 900.000 Euro gefördert. Beteiligt sind das Start-Up Variolytics, die Universität Kassel, das Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB und die Stadtentwässerung Göppingen.