Kerstin Faber erforscht die Gestaltung sozialer Infrastrukturen auf dem Land. Foto: privat
Städte, die aus allen Nähten platzen, und Dörfer, in denen der letzte Laden dicht macht – ist das tatsächlich so, und welche Faktoren wirken dem entgegen? Was braucht es, damit das Landleben attraktiver wird? Dazu forscht die Urbanistin Kerstin Faber, und setzt ihre Erkenntnisse in praktischen Projekten um.
Frau Faber, man hört immer wieder von der sogenannten Landflucht, obwohl das Leben in den Städten zunehmend teurer und anstrengender wird. Ist es tatsächlich so, dass Dörfer und kleinere Kommunen Probleme haben, ihre Einwohnerzahlen zu halten?
Der Begriff Landflucht ist für mich fehlleitend. Wir sehen in ländlich-peripheren Räumen durchaus Zuzug, und es gibt auf der anderen Seite auch Städte, die einem Schrumpfungsprozess unterworfen sind. Man muss immer die genaue Situation vor Ort betrachten. In den Regionen Thüringens, mit denen ich mich beschäftige, gibt beispielsweise um Weimar und Jena ländliche Regionen, die sehr beliebt sind. Doch auch weiter entfernt von größeren Zentren gewinnen Gemeinden neue Einwohner. Weil hier allerdings die Sterberate unter den Einwohnern oft höher liegt als der Zuzug, kommt es dort insgesamt noch nicht zu einem Wachstum.
Welche Faktoren begünstigen den Zuzug auf dem Land?
Den Ausschlag geben nach wie vor häufig familiäre Verbindungen und der Wunsch nach Sesshaftigkeit, aber das allein reicht natürlich nicht aus, um Menschen beispielsweise dazu zu bewegen aus der Stadt wieder in die alte Heimat zu ziehen. Natürlich spielen je nach Ort unterschiedliche Faktoren und auch die Kosten eine Rolle, aber allgemein beobachten wird, dass starke soziale Netze und eine engagierte Bürgerschaft das Leben auf dem Land wieder attraktiver machen.
In der Dorfregion Seltenrain im Thüringer Becken, in der ich aktiv bin, hat sich zum Beispiel ein außerordentliches bürgerliches Engagement entwickelt. Seit 2011 gibt es dort die Stiftung Landleben, die sich aus mehreren Gemeinden und der ortsansässigen Agrargenossenschaft gegründet hat, mit dem Ziel, die Daseinsvorsorge in der Region zu unterstützen. Dadurch wurde das örtliche Freibad erhalten, die geschlossene Schule als freie Schule wiedereröffnet, barrierefreier Wohnraum in den Gemeindezentren geschaffen und vieles mehr.
Die Stiftung gründete dann den Verein Landengel, um sich besser sozial kümmern zu können, und legte mit ihren Erfahrungen die Basis für das aktuelle Programm AGATHE des Freistaats Thüringen, um Menschen gut in die Gemeinschaft und Gesundheitsvorsorge auf dem Land zu integrieren. Darauf aufbauend entstand auch ein baukulturelles Projekt in Zusammenarbeit mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen. Hier wurden an Bushaltestellen Gesundheitskioske durch PASEL-K Architects aus Berlin gebaut, in denen sogenannte Gemeindeschwestern Gesundheitsdienstleistungen anbieten. Die Gesundheits- und Pflegeversorgung ist überhaupt ein großes Thema, genauso wie die Mobilität, die auf dem Land durch Vernetzung und Sharing-Konzepte enorm verbessert werden kann. Kurzum: Es muss in allen Bereichen eine attraktive Infrastruktur aufgebaut werden, was auf dem Land nur mit Engagement und in Kooperation unterschiedlichster Akteure funktioniert. Dann kann diesen Regionen der Ruf vorauseilen, dass es dort sehr lebenswert ist.
All das funktioniert aber nur, wenn die Menschen dort auch Ihrer Arbeit nachgehen können.
Natürlich. Und durch Corona haben wir einen starken Digitalisierungsschub erfahren mit positiven Effekten für das dezentrale Arbeiten. Jetzt geht es darum, dafür zu sorgen, dass die in dieser Zeit geschaffenen Strukturen und Erfahrungen weiterentwickelt werden können. Grundlage dafür – und auch für die soziale Infrastruktur – ist natürlich eine funktionierende Technik und ein gut ausgebautes Netz. Die Digitalisierung ist ja auch für die Angebote im Bereich Mobilität oder Gesundheit – sei es Carsharing oder Telemedizin – eine Grundvoraussetzung, damit die Teilnehmenden überhaupt mit den Dienstleistungen und untereinander zusammengebracht werden. All diese Angebote werden nur durch die entsprechende Software nutzbar.
Denken wir bei der Arbeitswelt aber nicht nur an Bürojobs im Home Office. Auch für andere Berufe kann man auf dem Land attraktivere Angebote schaffen, beispielsweise dadurch, dass man jungen Ärzten Mietpraxen anbietet, oder dadurch, dass man die lokale Produktion von Lebensmitteln unterstützt. Das ist gerade in den neuen Bundesländern durch die stark industriell geprägte Landwirtschaft wichtig. Hier gibt es Bestrebungen, die lokale Verarbeitung wieder zu stärken. Und auch die moderne Landwirtschaft braucht heutzutage eine gute digitale Infrastruktur.
Wichtig ist, dass jede Region für sich mit definieren kann, was ein gutes Leben ist. Und dann braucht es engagierte Akteure aus der Zivilgesellschaft und Wirtschaft und eine mutige Verwaltung, die alle an einem Strang ziehen. Ein Patentrezept gibt es nicht.
Inwiefern ist dabei trotzdem die Politik gefragt?
Natürlich muss die Landespolitik die Grundlagen dafür schaffen, dass solche Initiativen überhaupt gedeihen können, und dem ländlichen Raum die Möglichkeiten geben, sich weiterzuentwickeln. So dürfen beispielsweise auf keinen Fall öffentliche Verwaltungen, Institutionen und Schulen in den ländlichen Regionen weiter abgebaut werden. In vielen Dörfern spielen die Bürgermeister eine ganz wichtige Rolle und müssen befähigt werden, in ihrer Heimat etwas zu bewirken.
Manchmal wundere ich mich auch, warum die Bundespolitik sich nicht erst stärker für den Aufbau und die Erprobung von Alternativen einsetzt, beispielsweise im Gesundheitswesen oder in der Pflege, bevor sie bestimmte Strukturen langfristig umbaut. Schließlich betrifft der demografische Wandel, der auf uns zurollt, uns alle – auf dem Land und in der Stadt – und es gibt nicht die eine Lösung. Die Politik muss die guten und vielfältigen Ansätze, die die Regionen in Eigenregie entwickeln, aufgreifen und unterstützen. Man darf die Menschen nicht mit ihrer Selbstorganisation überfordern.
Engagement braucht zum Erfolg daher neben dem Willen und der guten Kommunikation Penetranz, also eine Hartnäckigkeit, die eigenen Pläne auch gegen initiale Widerstände umzusetzen und sich nicht entmutigen zu lassen. Dabei helfen die Vernetzung und der Erfahrungsaustausch mit anderen Vorhaben, die ja über die vielen Plattformen, die es mittlerweile zu Projekten der ländlichen Entwicklung gibt, ganz einfach möglich ist. Nicht jede Region muss jede Idee von ganz Neuem entwickeln.
Kerstin Faber ist Projektleiterin der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen und arbeitet an der Gestaltung neuer sozialer und klimagerechter Infrastrukturen in Stadt und Land. Zuvor war sie am Bauhaus Dessau als Projektmanagerin für die IBA Stadtumbau tätig und lehrte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) im Fachbereich Internationaler Städtebau. Sie verfügt über eine Gastprofessur in Stadtmanagement an der Uni Kassel und hat an mehreren Publikationen wie Raumpioniere in ländlichen Regionen (2013), Stadtland. Der neue Rurbanismus (2017) und der IBA-Abschlusspublikation StadtLand Perspektiven. Für eine neue Raumkultur (2023) mitgewirkt.