Forscherinnen und Forscher bestimmen die Lebensdauer der Nibelungenbrücke in Worms mit neuen Methoden. © KI-generiert
Dass viele Brücken in Deutschland Sanierungsfälle sind, hat spätestens der Einsturz der Dresdner Carolabrücke im September 2024 gezeigt. Es sei bereits „fünf nach zwölf“, schätzte Martin Mertens, Professor für Technische Mechanik, Baustatik und Brückenbau an der Hochschule Bochum, damals die Lage gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland ein. Vor allem Großbrücken, die vor 1980 gebaut wurden, sah der Experte in einem schlechten Zustand. „Wir schleppen Patienten vor uns her. Und ein paar Komapatienten hängen längst am Tropf.“ Fast zeitgleich veröffentlichte die Bundesgütegemeinschaft Instandsetzung von Betonbauwerken eine Datenanalyse. Sie zeigte: Jede zehnte Autobahnbrücke in Deutschland ist sanierungsbedürftig. 378 der untersuchten Brücken erhielten dabei die Note „nicht ausreichend“.
Doch warum müssen gerade jetzt so viele Brücken instandgesetzt oder neu gebaut werden? Die Autobahn AG schreibt dazu auf ihrer Website: „Insgesamt wurden 55 Prozent aller Brücken vor 1985 errichtet. Bei einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von ca. 70 Jahren erreichen die Brücken das Ende ihres Lebenszyklus und müssen ersetzt werden.“ Außerdem seien die Brücken damals für eine geringere Verkehrsmenge und -last geplant worden – vor allem für deutlich weniger Lastwagen: „Ein einziger Lkw nutzt die Straße so stark ab, wie viele Tausend Pkw. Und hier leiden die Brücken besonders.“
Vor diesem Hintergrund wirkt ein Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG besonders relevant: Das Programm „Hundert plus – Verlängerung der Lebensdauer komplexer Baustrukturen durch intelligente Digitalisierung (SPP 100+)“ unterstützt die Entwicklung eines digitalen Zwillings von Bauwerken. Messdaten aus dem Monitoring des tatsächlichen Bauwerks fließen dort kontinuierlich ein und zeigen den tatsächlichen Zustand – also auch, ob und wann das Bauwerk tatsächlich eine Sanierung benötigt.
Im Rahmen dieses Programms haben jetzt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) einer Künstlichen Intelligenz beigebracht, Fahrzeuge anhand der von ihnen erzeugten Schwingungen zu erkennen. Referenzprojekt ist die Nibelungenbrücke: Mit über 100 Metern Länge verbindet sie die rheinland-pfälzische Stadt Worms über den Rhein mit den hessischen Städten Lampertheim und Bürstadt. Der 1953 erbaute ältere Teil gilt als Ikone der Spannbetonbauweise.
Die Forscherinnen und Forscher wollen erfassen, wie stark der Verkehr die Brücke belastet, um Schäden – und Sanierungen – vorhersagen zu können. Dafür wurden zunächst ein 3D-Modell der Brücke auf Basis von Bestandsunterlagen, eine 3D-Vermessung sowie ein Structural-Health-Monitoring-System erstellt sowie ein digitaler Zwilling implementiert. Sensoren messen dann Schwingungen, die durch den Verkehr entstehen, sowie die Anzahl der Fahrzeuge: Die KI soll so zum Beispiel erkennen, wie viele Lkw über die Brücke fahren. „Verschiedene festinstallierte Sensoren messen an unterschiedlichen Stellen, zu verschiedenen Zeiten und mit unterschiedlicher Frequenz“, erläutert Ralf Herrmann, Leiter des Projekts. „Diese Datensets aufeinander abzubilden und ein kohärentes Ergebnis zu erhalten, muss die KI erst lernen. Wenn etwa für einen Zeitraum ein Set Messungen zur Verfügung steht und für einen anderen Zeitraum das Set eines anderen Sensors, dann soll die KI trotzdem sagen können, welche Fahrzeuge wann über die Brücke gefahren sind und welche Belastungen sie ausgelöst haben.“
Ob die Daten helfen, die Nibelungenbrücke über ihr ursprüngliches Ablaufdatum 2028 hinaus zu nutzen, wird sich zeigen. Ziel ist es auf jeden Fall, die Lebensdauer mit den neuen Methoden und gezielten Instandhaltungsmaßnahmen entscheidend zu verlängern.
Perspektivisch sollen die Erkenntnisse aus diesem Projekt auch anderen Bauwerken ein längeres Leben ermöglichen: Die vielen älteren Brücken in Deutschland könnten dann von der KI-gesteuerten Überwachung profitieren.
Je älter das Bauwerk, desto schneller der Verfall. Deswegen lohnt es sich gerade bei älteren Brücken und Häusern genau hinzuschauen: Denn vorbeugende Maßnahmen gegen Alterung sind vor allem dann erfolgreich, wenn sie so früh wie möglich erfolgen.
Das Projekt SPP 100+ widmet sich der Aufgabe, Zustandsinformationen über ein Bauwerk deutlich früher und genauer zu erheben, als das heute möglich ist – und setzt dabei u. a. auf das Konzept des digitalen Zwillings.
Der kaum messbaren Änderungsrate durch Deterioration (Verschlechterung) an großen Bauwerken widmet sich das Projekt in den interdisziplinären Forschungsbereichen Digitale Modelle, Digitale Verknüpfung und Zustandsindikatoren.
https://www.spp100plus.de/ueber-uns/
Schreibe einen Kommentar