Eröffnung der Jakobpassage in Görlitz, © Paul Glaser
Leerstehende historische Gebäude auf dem Land zu neuen Orten des Arbeitens entwickeln – dieser Aufgabe widmet sich der Landesverband der sächsischen Kultur- und Kreativwirtschaft. Ansprechpartnerin für Raum- und Nachnutzungsthemen ist die Architektin Claudia Muntschick.
Frau Muntschick, Sie arbeiten seit 2017 für das Projekt KREATIVES SACHSEN. Was ist Ihre Aufgabe?
Ich bin als Ansprechpartnerin für KREATIVES SACHSEN in Ostsachsen unterwegs und berate Unternehmen und Soloselbständige, die in der Kultur- und Kreativwirtschaft tätig sind. Meine Kollegin Katja Großer ist in derselben Funktion in West- und Nordsachsen tätig. Von den Akteurinnen und Akteuren vor Ort wird häufig das Thema ‚Bestandsentwicklung‘ an uns herangetragen.
Was heißt das?
In Sachsen gibt es einen hohen Bestand an ehemaligen Industriearealen, die ein großes Potenzial für die Nachnutzung haben. Weil Großinvestoren fehlen, bieten sich kleinteilige Entwicklungen der Immobilien zu Orten an, wo wieder gearbeitet wird. Dabei geht es auch um Geschichte, Identität und Industriekultur, aber vor allem auch um Fragen der viel diskutierten neuen Arbeitswelt. In unserem Netzwerk sammeln sich zahlreiche Macherinnen und Macher, die unkonventionelle Geschäftsmodelle erproben, kollaborativ und projektbezogen zusammenarbeiten und Wert auf Nachhaltigkeit und Authentizität legen. Das finden sie im historischen Bestand, der es möglich macht, dass man zügig starten und der eigenen Idee im wahrsten Sinne des Wortes ‚Raum‘ geben kann. Wir versuchen, zwischen der Eigentümerin oder dem Eigentümer, der Kommune und den Nutzungsinteressierten zu vermitteln. Wir erfragen die jeweiligen Wünsche und Möglichkeiten, klären die baulichen Rahmenbedingungen, besprechen Nutzungsoptionen und mögliche Organisationsformen für die Betreiberstruktur. Außerdem versuchen wir, einen Konsens für die Nachnutzung der Fabrik, der Mühle oder des Schlachthofes zu finden. Denn die Beteiligten haben oft unterschiedliche Blickwinkel auf den Prozess.
Kommt der Kultur- und Kreativwirtschaft eine Schlüsselrolle zu, um neues Leben in alte Gemäuer zu bringen?
Die Definition der Kultur- und Kreativwirtschaft beschreibt einen Wirtschaftsbereich, dem zwölf Teilbranchen zugeordnet werden. Dazu gehören Unternehmen aus den Bereichen Kunsthandwerk, Architektur, Musikwirtschaft, Design, Film, Werbung, Bildende und darstellende Kunst und der Software- und Gamesindustrie. Aus statistischen Daten wissen wir, dass 50 Prozent der 10.000 sächsischen Kreativunternehmen abseits der Großstädte ansässig sind. Und aus der Praxis wissen wir, dass sie den Wandel in ländlichen Regionen schon heute gestalten. Es ist sehr spannend zu sehen, wie Tradition und Handwerk mit neuen Wertschöpfungsmodellen kombiniert werden. Eine große Rolle spielt dabei, dass Raum vorhanden ist, der kollaboratives Arbeiten ermöglicht und Ressourcen gemeinsam genutzt werden können, zum Beispiel Werkstätten und Veranstaltungsräume.
Wie wichtig ist die Digitalisierung?
In Sachsen ist der Ausbau des Breitbandnetzes in den vergangenen Jahren vorangeschritten, aber im Vergleich zu unseren tschechischen Nachbarn ist leider noch Luft nach oben. Eine stabile und schnelle Internetverbindung ist nicht nur für Unternehmen, Kultureinrichtungen und Verwaltungen unabdingbar, sondern sie ist inzwischen auch die wichtigste Voraussetzung für die Ansiedlung von Fachkräften. Wer aufs Land zieht, will auch mit der Welt verbunden sein. Stellen Sie sich den gut ausgebildeten Ingenieur vor, der in der Lausitz einen interessanten und gut bezahlten Job in der Wasserstoffforschung angeboten bekommt und seinen Kindern erklären soll, dass sie dort keine Internetverbindung haben. Diese Fachkraft zieht nicht aufs Land, egal, welche Marketingkampagne wir entwickeln.
Gibt es ein Projekt in Sachsen, das Vorbild für andere sein könnte?
In Görlitz habe ich jahrelang das Projekt des Kühlhaus-Vereins betreut. Es ist aus einer Besetzung heraus entstanden. Das Kühlhaus war 1993 stillgelegt worden. Ein niederländischer Investor kaufte das Gebäude, nachdem es von jungen Görlitzerinnen und Görlitzern besetzt worden war. Statt die Jugendlichen vom Gelände zu werfen, entwickelte er mit ihnen schrittweise die Wiederbelebung des Areals, das nicht mehr als Kühlhaus genutzt werden konnte. Heute ist dort ein soziokulturelles Zentrum mit vielen Veranstaltungen für alle Generationen angesiedelt, es gibt einen eigenen Campingplatz, ein Garagen-Hostel, Büro- und Werkstatträume für Kreativunternehmen. Parallel dazu entstand in der Innenstadt die Initiative Jakobpassage, die ursprünglich aus einem Pop-up-Store hervorgegangen ist, der durch Crowdfunding finanziert wurde. Inzwischen ist ein ganzer Gebäudekomplex wiederbelebt – mit Familienzentrum, Filmemachern, Softwareunternehmen, Architekten, Werkstatt- und Lagerflächen und einem Restaurant.
„Der Umbruch in den ehemaligen sozialistischen Ländern hat alte Industrieanlagen und Gebäude hinterlassen, deren Nachnutzung niedrigschwellig organisiert werden kann.“
Claudia Muntschick
Görlitz ist eine geteilte Stadt. Wird mit Zgorzelec auf der polnischen Seite zusammengearbeitet?
Orte, die neue Formen des Lebens und Arbeitens ermöglichen, sind in der Regel sehr offen und Orte der internationalen Begegnung. Auf beiden Seiten der Grenze, in Görlitz und in Zgorzelec, gibt es spannende Beispiele für gemeinsame Projekte – vom deutsch-polnischen Kindergarten bis zur Kooperation zwischen Unternehmen. Aus der Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern wissen wir, dass die Entwicklung von Bestandsgebäuden für kollaborative Nutzungen in den postsozialistischen Ländern Europas in den vergangenen dreißig Jahren anders verlaufen ist als in Westeuropa. Wenn wir mit Akteurinnen und Akteuren in Frankreich, Italien oder Österreich sprechen, ist die Ausgangslage dort aufgrund der Besitzverhältnisse häufig ganz anders. Der Umbruch in den ehemaligen sozialistischen Ländern hat alte Industrieanlagen und Gebäude hinterlassen, deren Nachnutzung niedrigschwellig organisiert werden kann, weil Renditeerwartungen nicht im Fokus stehen. In Polen und Tschechien sehen wir deshalb ganz ähnliche Entwicklungen wie in den östlichen Bundesländern.
Was meinen Sie konkret damit?
Der massive wirtschaftliche Umbruch hat in Sachsen und in ganz Ostdeutschland eine Vielzahl an Bestandsgebäuden hinterlassen, alte Speicher, Rittergüter, Industrieanlagen, die immer noch keinen Käufer finden oder wieder auf den Markt zurückgekommen sind. Dieses Phänomen gibt es auch in Polen oder Tschechien. Auch dort sind solche Gebäude oder Flächen quasi übriggeblieben. Deshalb ist es in den postsozialistischen Ländern leichter, an größere Immobilien heranzukommen, die für kollaborative Arbeitsorte geeignet sind. Hier entstehen unheimlich spannende Instandsetzungsmodelle, die auch denkmalpflegerisch Sinn machen: Wenn keine großen Budgets vorhanden sind, arbeitet man mit dem, was da ist. Das heißt, die Nutzerinnen und Nutzer reparieren ihre Gebäude selbst, verkitten Fenster, arbeiten Türen wieder auf, reparieren den historischen Dachstuhl. Wir begleiten einige dieser Projekte, die mit einem Bruchteil der sonst üblichen Gelder auskommen müssen und genau deshalb einen großen Einfluss auf ihre Umgebung haben.
Wie werden solche Orte von den Alteingesessenen angenommen?
Die Akzeptanz solcher Projekte hängt davon ab, wie stark die lokale Bevölkerung eingebunden ist. Gerade in Gegenden, die jahrelang vom Wegzug junger Menschen und der Abwanderung der Industrie geprägt waren, schaffen diese Orte neue Möglichkeiten der Identifikation. Und sie geben den Menschen vor Ort neuen Mut. Beispiele wie in Görlitz zeigen aber auch, dass es bei der Entwicklung von ländlichen Regionen nicht nur um das Angebot der klassischen Erwerbsarbeit geht, es geht vor allem auch darum, die Grauzonen zwischen Tourismus und Wirtschaft, zwischen Kultur und Wirtschaft, zwischen Tradition und Neuem zu nutzen. Vereinsarbeit und Soziokultur, ein Angebot an Gastronomie und Veranstaltungen für unterschiedliche Altersgruppen scheint hier die richtige Strategie zu sein. Im ländlichen Raum übernehmen kollaborative Orte häufig wesentlich mehr Aufgaben als ein klassischer Coworking-Space in der Stadt. Hier entstehen die Begegnungen, die traditionell in Gasthöfen oder Vereinshäusern angesiedelt waren, hier wird auch Demokratie und gesellschaftlicher Austausch gelebt.
Kommt die Kreativwirtschaft auch mit dem Handwerk zusammen?
Als Landesverband der Kultur- und Kreativwirtschaft Sachsen vertreten wir auch das Kunsthandwerk in Sachen. Es gibt also Schnittstellen. Und wir haben in den letzten Jahren verschiedene Formate mit dem Handwerk initiiert. In sogenannten Innovationswerkstätten haben Handwerksunternehmen gemeinsam mit Kreativunternehmen an Lösungen gearbeitet: für den digitalen Vertrieb oder die Produktgestaltung. Aus diesen Werkstätten sind schon echte Kooperationen entstanden.
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Welche Projekte gelingen und welche scheitern?
Aus unserer Erfahrung funktionieren die Projekte am besten, die sich maximal auf die Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer konzentrieren und wo die Aufgaben für alle Beteiligten klar verteilt sind. Ich habe schon häufiger erlebt, dass sich Eigentümerinnen und Eigentümer, die selbst nicht in die Objekte einziehen wollen, überlegen, was der Kreative für ein Umfeld braucht und Grundrisse mit langen, schmalen Fluren entwerfen. Das ist schon deshalb schwierig, weil die einzelnen Teilbranchen der Kultur- und Kreativwirtschaft ganz unterschiedliche Raumbedarfe haben. Es lohnt sich deshalb aus unserer Sicht, eine „Phase 0“ zu finanzieren oder sogar zu fördern, um die individuellen Rahmenbedingungen möglichst genau zu erfassen und mit den Erwartungen der zukünftigen Mieterinnen und Mieter abzugleichen, bevor die konkrete Bauplanung beginnt. Projekte sind erfolgreich, wenn es gelingt, Akteurinnen und Akteure langfristig einzubinden und sie in ihrer Eigenverantwortlichkeit für den Ort bestmöglich zu stärken.
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