Marcèl Pritsch (links), Bürgermeister von Borken und Dr. Philipp Rottwilm (rechts), Bürgermeister von Neuental, treiben das gemeinsame Digitalisierungsprojekt voran. © Stadtverwaltung Borken / Stadtverwaltung Neuental
Im Norden Hessens haben sich fünf Kommunen zusammengeschlossen, um die Digitalisierung ihrer Verwaltungsaktivitäten anzugehen. Durch die vorbildliche Umsetzung digitaler Lösungen wurde Schwalm-Eder-West zur „Smart Region“. Die Bürgermeister von Neuental und Borken – Dr. Philipp Rottwilm und Marcèl Pritsch – erzählen, was das bedeutet.
Wie kam es dazu, dass sich Ihre fünf Kommunen bei der Umsetzung der Digitalisierung zusammengeschlossen haben?
Pritsch: Ich erinnere mich an eine Veranstaltung in Kassel, auf der uns vorgestellt wurde, was wir für die Umsetzung des Onlinezugangsgesetztes OZG alles machen müssen. Da wurde uns schnell klar: Das kann nicht jeder für sich machen, das muss gemeinsam passieren. Philipp Rottwilm war bereit, das ganze voranzutreiben und hat unser Vorhaben bei Förderprogrammen eingereicht. So kam es, dass wir zu einer Smart Region wurden, die als Blaupause für die Digitalisierung des ländlichen Raums dienen soll. Voraussetzung für diese Fördermittel ist, dass alles, was wir tun, leicht auf andere Regionen übertragbar ist.
Rottwilm: Die Verpflichtung, alle Dienstleistungen digital zur Verfügung zu stellen, ist für die Kommunen eine enorme Herausforderung. Wir wollen zeigen, dass das, was in den Städten mittlerweile selbstverständlich ist – dass ich zum Beispiel abends vorm Fernseher über mein Smartphone meinen Hund anmelden kann –, auch auf dem platten Land funktioniert. Der Online-Zugang zu Verwaltungsdienstleistungen, den wir als Kommune ja schaffen müssen, ist für uns aber nur die Basis. Wir gehen mit unseren Plänen weit darüber hinaus und wollen eine digitale Modellregion werden.
Welche Maßnahmen verfolgen Sie, die über das geforderte Maß hinausgehen?
Rottwilm: Da gibt es sehr viele Projekte, die allesamt den Bürgern, unserer Verwaltung und auch der Umwelt zugutekommen. Aktuell beschäftigen wir uns beispielsweise mit der digitalen Steuerung öffentlicher Gebäude. Dazu gehören intelligentes Heizen und Lüften, aber auch ein CO2-Monitoring, das für den Bürger transparent macht, wo wir stehen. Mit digitaler Steuerung lassen sich viel Energie und damit CO2 aber auch Kosten einsparen. Gleiches gilt für die intelligente Straßenbeleuchtung. Wir wollen nicht einfach das Licht ausmachen, um Energie zu sparen. Wir setzen auf moderne, steuerbare LED, die gerade so viel leuchten, wie es unter den aktuellen Bedingungen notwendig ist, damit der Bürger sich wohl fühlt. Demnächst wollen wir dafür Sensoren einsetzen, die unter anderem dafür sorgen, dass bei nassen Straßen die Beleuchtung gedimmt wird, weil das Licht durch die Reflektionen auf dem Asphalt ohnehin verstärkt wird.
Pritsch: Wir schauen dabei genau hin, was in unserer Region sinnvoll ist. Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Beispielsweise haben wir im Sommer großen Andrang an den Badeseen in unserer Region. In der Vergangenheit führte das häufig zu Konflikten, wenn Familien nach einer längeren Anreise mit müden Kindern im überhitzten Auto um die Parkplätze kämpften. Jetzt kann ich von zu Hause aus nachschauen, wo es Kapazitäten gibt und ob es sich noch lohnt, zum See zu fahren – und zwar nicht nur in meiner Kommune, sondern eben im gesamten Gebiet. Ein weiteres Beispiel ist die digitale Messung von Lärm und Luftqualität entlang der A49, die jeder Bürger jederzeit einsehen kann. Diese Werte digital zu erfassen, liefert uns eine objektive Diskussionsgrundlage für den geplanten Ausbau der Autobahn – anstelle von diffusen Ängsten und Sorgen.
All diese Projekte bedeuten viel Arbeit. Wie sorgen Sie dafür, dass alle mitziehen?
Pritsch: Durch die Fördermittel konnten wir eine Stelle schaffen, einen zentralen Digitalisierungsbeauftragten, der als Spinne im Netz alles vorantreibt. Er steht in engem Kontakt mit den Digitalisierungslotsen, die wir für jeden Bereich ernannt haben. Es ist sehr viel Wert, jemanden zu haben, der sich ausschließlich um das Thema Digitalisierung kümmert, denn wir alle müssen diese Projekte zu unseren tagtäglichen Aufgaben bewältigen. Da es aber sehr spannende Projekte sind, ist die Motivation unter den Mitarbeiten hoch.
Rottwilm: Es ist sogar so, dass wir als Kommune für junge Mitarbeiter attraktiver werden, weil wir nicht als alte Amtsstube auftreten, sondern spannende Zukunftsprojekte bieten, mit denen sich die Mitarbeiter zukunftsfähig weiterbilden können. Sie arbeiten nicht an Themen von gestern, sondern von übermorgen. Da alle bei uns verstanden haben, wie wichtig dieses Thema ist, wird die Arbeit der Digitalisierungslosten und aller, die sich für diese Projekte engagieren, sehr wertgeschätzt. Jeder weiß, dass Digitalisierung bei uns Chefsache ist. Außerdem vereinfacht und automatisiert die Digitalisierung auch viele Prozesse, sodass die Mitarbeiter langfristig mehr Zeit haben, sich bei anderen Anliegen persönlich um die Bürger zu kümmern.
Bestehen keinerlei Befürchtungen, einen Teil der Bürger nicht mitnehmen zu können?
Rottwilm: Das ist natürlich ein wichtiger Punkt und wir versuchen, jeden mitzunehmen. Bisher haben wir nicht den Eindruck, dass beispielsweise die ältere Generation nicht an unserer Digitalisierung teilnimmt. Das zeigen auch die Klickzahlen auf unserer Website. Mein Schwiegervater ist 80 und kennt sich mit dem Iphone besser aus als ich. Aber wenn jemand sich hier unsicher fühlt, haben wir ehrenamtliche Helfer, die sich im Bürgerhaus mit Menschen zusammensetzen, die erklärt bekommen wollen, wie sie beispielsweise online den Personalausweis beantragen.
Pritsch: Ganz wichtig ist es zu betonen, dass die Online-Bereitstellung der Services ein Angebot an den Bürger ist, aber keine Verpflichtung. Sie können bei uns für alles immer noch im Rathaus vorbeikommen und es auf herkömmliche Weise erledigen. Das wird auch in Zukunft so bleiben!
Wie sehen die nächsten Arbeitsschwerpunkte aus?
Pritsch: Die Digitalisierung der Verwaltung ist noch längst nicht abgeschlossen. Die elektronische Akte steht auf der Tagesordnung. Außerdem zieht jedes Online-Angebot weitere Prozesse nach sich, die überdacht werden müssen, beispielweise die Bezahlung. Die Kosten für eine digitale Buchung jeglicher Art müssen im Verhältnis stehen. Auf der anderen Seite werden bestimmte Aufgaben nach und nach reduziert, wie zum Beispiel das Leeren der Parkautomaten. Auch die Arbeit der Stadtkasse wird sich somit komplett verändern.
Rottwilm: Über diese Pflichtaufgaben hinaus sehe ich viele Möglichkeiten in der Verkehrssteuerung und im Tourismus. Herr Pritsch hat bereits das Parkleitsystem angesprochen, aber den Verkehr zu messen, hat auch andere Vorteile. Man kann Gefahrenstellen identifizieren und zum Beispiel sehen, wo eine Tempo-30-Zone sinnvoll wäre. Toll wäre auch ein einheitliches Buchungssystem, wo man vom Museum bis zur Location für die Dorffete alles zentral buchen kann. Eins ist klar: Es wird wieder ein Jahr voller Arbeit, aber damit legen wir den Grundstein für unsere Zukunft.
Der Zweckverband Interkommunale Zusammenarbeit Schwalm-Eder-West setzt sich aus den Kommunen Bad Zwesten, Borken (Hessen), Jesberg, Neuental und Wabern zusammen. In 43 Orts- und Stadtteilen wohnen ca. 31.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Als Smart Region gehen diese Kommunen mit smarten Digitalisierungskonzepten gemeinsam die Transformation des ländlichen Raums für eine digitale Zukunft an und wollen damit Mehrwerte für Bürger:innen, Politik und Verwaltung schaffen. Als Modellregion erhält Schwalm-Eder-West für einen Projektzeitraum von zwei Jahren 2,5 Millionen Euro an Fördermitteln.