Wer auf den Kanarischen Inseln überwintert, ist jenseits der 60 und Rentner? Das war einmal. Heute leben dort – wenn auch immer nur einige Monate – diejenigen, die sich als „digitale Nomaden“ verstehen. Mit einer schnellen Internetverbindung überwinden sie Zeitzonen und Ländergrenzen, arbeiten ortsunabhängig und folgen dem eigenen Freiheitsdrang.
Am Strand sitzen, den Sonnenuntergang genießen, dabei den Laptop auf den Knien – sieht so Arbeit aus? Ja, für alle diejenigen, die keinen Schreibtisch, kein Büro und keinen festen Arbeitsplatz brauchen, dafür aber Freiheit schätzen und gerne reisen.
Die eine war gerade drei Monate auf Bali, der andere ein halbes Jahr in Südafrika und davor in Thailand. Ihre Lieblingsorte sind Berlin und San Diego, Lissabon und Buenos Aires. Sie jetten von Kanada nach Indonesien und von den USA nach Taiwan. Sie sind überall da, wo das Leben spannend und das Internet schnell ist.
Digitale Nomaden gibt es viele und es werden immer mehr. Eine Studie der amerikanische Unternehmensberatung MBO Partners geht beispielsweise davon aus, dass mittlerweile rund 15,5 Millionen US-Bürger der ortsunabhängigen Arbeitsweise nachgehen.
Was alle diese Nomaden gemeinsam haben, ist ein ortsunabhängiger, technologiebasierter Lebensstil, der es ihnen ermöglicht, überall auf der Welt zu leben. Die Gründe sind attraktiv: Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von einem klassischen „Nine-to-five-Rhythmus“ des Büroalltags. Sie vereinbaren Leben und Arbeit so, wie es ihnen gefällt.
Zu klassischen Auswanderern macht sie das nicht. Denn im Gegensatz zu diesen sind digitale Nomaden nicht auf der Suche nach einer bestimmten neuen Heimat, vielmehr zieht sie ihr Freiheitsdrang in die ganze Welt. Eine neue Sesshaftigkeit im Ausland ist bei den meisten nicht vorgesehen – eher planen sie bereits die nächste Station ihrer Arbeit auf Achse.
Deutlich mehr Männer als Frauen entscheiden sich dafür, nicht ständig von einem Ort, sondern multilokal zu arbeiten. Dabei wechseln die Orte und die Intervalle der Tätigkeit. Auffällig ist, dass viele Mitglieder der „Generation Y“ darunter sind. Das ist die Altersgruppe, der nachgesagt wird, mit Smartphone und Notebook auf die Welt zu kommen und „Digital Natives“ zu sein.
Sie gelten als gut vernetzt, technologieaffin und offen für das Arbeiten in anderen Ländern. 30 Jahre an einem Stück für ein Unternehmen zu arbeiten, wie noch ihre Großeltern, das ist nicht ihr Ding. Status, Einkommen und Firmenwagen sind für viele keine ausreichenden Gründe, um Individualismus, Freiheit und Mut für Neues aufzugeben.
Aber auch immer mehr „Babyboomer“ beantragen nicht mehr zu einem vorgegebenen Zeitpunkt Rente und lassen die Arbeit ruhen. Warum nicht auch jenseits einer Altersgrenze auf Reisen gehen und dabei – wenigstens teilweise – arbeiten und verdienen?
Wenn diese Weltenbummler etwas gemeinsam haben, dann sind es ihre Berufe. Jeder, der für seine Tätigkeit nicht mehr braucht als einen Laptop und eine stabile Internetverbindung, kann im Prinzip überall auf der Welt seinem Job nachgehen. Deshalb gibt es so viele Kreative unter den digitalen Nomaden: Reiseblogger, Texter, Journalisten, Grafiker oder IT-Entwickler.
Aber auch Spezialisten für Social Media, E-Commerce oder Webdesign sind unter den Nomaden zu finden. Sie sind Einzelunternehmer oder Freiberufler, arbeiten für einen festen Kundenstamm oder wechselnde Auftraggeber. Was sie antreibt, ist der Wunsch nach Freiheit und die Neugier auf andere Kulturen. Was sie auszeichnet, ist eine gute Selbstorganisation, Hartnäckigkeit, Disziplin, Motivation und eine gute Geschäftsidee.
Manche von ihnen haben es geschafft, die Leidenschaft für das Reisen und den Broterwerb zu vereinbaren – ein Teil der Reiseblogger zählt sich zu den digitalen Nomaden. Andere der umtriebigen Globetrotter haben aber auch ein Geschäftsmodell daraus gemacht, Interessenten für den alternativen Lebensstil in Workshops zu beraten, zu coachen oder ihnen wichtige Kontakte zu vermitteln. So ist etwa das „DNX-Festival“ entstanden.
Die beiden Gründer leben in Thailand und Brasilien und haben sich nach der Gründung von Online-Start-ups mit einer Reisewebsite selbstständig gemacht. Mittlerweile veranstalten sie mit dem DNX-Festival seit sieben Jahren die größte internationale Zusammenkunft für alle, die sich für das Leben als „Nomade“ interessieren.
Schon längst gibt es auch Marktplätze für Menschen, die ein „remote year“ verbringen oder als Team eine „Workation“ erleben wollen. Hinter dem Kunstwort steht die Idee, dass gemeinsame Arbeit und Urlaub im Wechsel stattfinden. Unternehmen etwa nutzen Workation als Motivation für Mitarbeiter oder als Maßnahme zum Teambuilding.
Längst nicht jeder Nomade reist wirklich stets und ständig in exotisch ferne Länder. Je mehr das Angebot von Co-Living- und Co-Working-Spaces zunimmt, desto mehr Menschen begeistern sich für einen Lebensstil, den sie in Barcelona ebenso leben können wie in Bielefeld – für kurze oder längere Zeit.
Über Formen von Telearbeit wird seit vielen Jahren schon diskutiert und geforscht. Aber Phänomene, wie das der digitalen Nomaden oder des „Remote Working“, werden erst durch zwei Entwicklungen Wirklichkeit. Die eine ist die fortschreitende Digitalisierung. Sie schafft erst die Voraussetzung für flexibles, ortsunabhängiges Arbeiten. Online-Video- und Chatdienste bieten Austausch und Vernetzung rund um den Globus. Collaboration-Tools ermöglichen die Koordination von Aufgaben und Projekten in einem Team – dauerhaft oder nur für ein Projekt.
Die andere ist die Tatsache, dass immer mehr Unternehmen andere Formen von Arbeit und Arbeitszeit anbieten. Letztlich können auch angestellte Mitarbeiter digitale Nomaden sein, wenn sie ortsunabhängig in wechselnden Projekten, mit wechselnden Teams, aber für einen Arbeitgeber tätig sind. Einzige Hürde bleibt hier bisweilen die Zeitverschiebung. Gehören Meetings und kurzfristige Abstimmungen zum Arbeitsalltag, müssen Remote-Arbeitende im Zweifelsfall auch mal verfügbar sein, wenn in ihrer Zeitzone gerade nicht die klassischen Kernarbeitszeiten sind.
Die Möglichkeiten, Anwesenheit im Unternehmen mit Homeoffice oder mobilem Arbeiten zu kombinieren sind heute so vielfältig wie noch nie. Im Wettstreit um qualifizierte Mitarbeiter spielen flexible Arbeitsmöglichkeiten und die Balance von Leben und Arbeiten eine immer größere Rolle. Arbeiten von morgen hat heute schon begonnen. Digitale Nomaden haben den Weg dafür geebnet.