In ländlichen Räumen, wo der Bus selten oder gar nicht fährt, kann die OhneArztPraxis Patienten Wege ersparen. © TeleMedicon/ HealthCare Futurists
Im Vorabendprogramm ist Landarzt ein Traumberuf: Die Praxis liegt idyllisch im Grünen, man wird von der Dorfgemeinschaft geschätzt und kennt alle seine Patientinnen und Patienten persönlich. Doch die Realität sieht oft anders aus: Nur wenige junge Ärztinnen und Ärzte zieht es nach Studium und Ausbildung von der Stadt aufs Land, viele Landarztpraxen suchen händeringend nach Nachfolgern. Im Jahr 2035 könnten bis zu 40 Prozent der Landkreise in Deutschland medizinisch unterversorgt sein, so eine Studie der Robert-Bosch-Stiftung aus dem vergangenen Jahr. Mit speziellen Förder- und Anwerbeprogrammen wie der Landarztquote im Studium oder Investitionszuschüssen für Niederlassungswillige versuchen Akteure wie die Kassenärztlichen Vereinigungen oder Kommunen, den Trend umzukehren. Doch erst einmal bleiben ratlose Patientinnen und Patienten zurück, die sich nach anderen Optionen umsehen müssen.
Hier kommen digitale Lösungen ins Spiel – wie die OhneArztPraxis, die in kleineren Gemeinden ohne Arzt als Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten funktioniert. In gut ausgestatteten Räumen werden sie dort vor Ort von einer examinierten Pflegefachkraft oder Medizinischen Fachangestellten untersucht und versorgt. Routineaufgaben wie Blutdruck messen, Verbände wechseln oder Spritzen verabreichen – in Zukunft vielleicht sogar Ultraschall und Endoskopie – lassen sich auf diesem Weg problemlos erledigen. Bei Bedarf können die Hausärztin oder der Hausarzt per Bildschirm zugeschaltet werden. Bei der Diagnostik lassen sich die Ergebnisse sogar direkt übertragen, so dass sich die Ärztin digital zum Beispiel ein EKG ansehen, die Herztöne anhören oder den Heilungsverlauf begutachten kann – moderne Medizintechnik wie ein digitales Stethoskop machen das möglich. So kann sich die Ärztin oder der Arzt am Ende vom Schreibtisch aus ein Bild vom gesundheitlichen Zustand ihres bzw. seines Patienten machen und direkt entscheiden, ob ein persönlicher Sprechstundenbesuch erforderlich ist.
Das ist grundsätzlich auch möglich: Denn anders als bei anderen Telemedizinangeboten sind bei der OhneArztPraxis die Entfernungen nicht allzu groß. Die Behandelnden sitzen nicht irgendwo in Deutschland, sondern sind kooperierende Hausärztinnen und Hausärzte aus der Region. Die Patienten bringen sozusagen „ihre“ Ärztin mit; es kommt nicht zu einer Neuverteilung. Da die OhneArztPraxis für die überlaufenen Praxen die Vor-Ort-Versorgung übernimmt, die Patientinnen und Patienten in gewisser Weise „filtert“ und ihnen mit den qualifizierten Fachkräften wohnortnahe Ansprechpartner bietet, werden sie durch die Zusammenarbeit auch ein Stück weit entlastet. Die Ärzte können sich damit auf eine rein ärztliche Tätigkeit beschränken und mehr Personen fachkundig behandeln.
„Die Leute sind interessiert und nicht abgeneigt, Telemedizin zu probieren. Sie hätten natürlich lieber den Bergdoktor – aber den gibt es eben nicht mehr.“
Dr. Tobias Gantner
Momentan befindet sich das Konzept, das vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gefördert wird, in einer Testphase, zwei Kommunen in Baden-Württemberg setzen das Modell seit 2019 um. Allerdings zeigt sich in der Praxis auch, dass manche Patientinnen und Patienten Berührungsängste mit dem digitalen Arztbesuch haben. Der ist hierzulande auch immer noch die Ausnahme: Zwar gehören Video-Sprechstunden mittlerweile häufiger zum Leistungsspektrum der Praxen, lassen sich unter bestimmten Voraussetzungen über die Krankenkasse abrechnen und werden in Pandemiezeiten stärker nachgefragt. Doch noch 2021 hatten laut einer BITKOM-Befragung erst 14 Prozent der Menschen in Deutschland tatsächlich schon einmal eine Online-Sprechstunde besucht. Die OhneArztPraxis funktioniert daher zunächst als zusätzliches Angebot. „Manch einer sagt: Mich stört das nicht, wenn ich 20 Kilometer zum Arzt fahren muss und dann ein bis zwei Stunden im Wartezimmer sitze. Das ist mir der persönliche Austausch wert. Das ist völlig in Ordnung“, sagt Dr. Tobias Gantner, Gründer der HealthCare Futurists und Geschäftsführer der PhilonMed GmbH, die das Praxiskonzept entwickelt und umgesetzt hat.
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Oft sind diese Distanzen aber ein Problem, gerade, wenn Busverbindungen fehlen. „Andere wollen oder können aber nicht für jeden Verbandswechsel 20 Kilometer fahren und möchten lieber eine Versorgung vor Ort haben. Für diese Menschen wollen wir da sein: für diejenigen, die mit der Situation, so wie sie ist, nicht zufrieden sind.“ Das neue Modell kann dadurch auch zur Verbesserung der medizinischen Versorgung in kleineren Kommunen beitragen. „Die OhneArztPraxis fügt sich dabei in ein Behandlungskontinuum ein, das in der Häuslichkeit der Patienten beginnt und eben nicht immer als nächsten Schritt die ferne Arztpraxis oder das noch fernere Krankenhaus benötigt“, sagt Dr. Tobias Gantner. „An dieser Schnittstelle sehe ich digitale Transformation: neue Technologie, die Prozesse verändert und nicht bloß alte Prozesse, weil sie analog nicht mehr funktionieren, digital nachbaut.“ So versteht sich die OhneArztPraxis als „Praxis as a Service“, die allen regionalen und überregionalen Ärztinnen und Ärzten und deren Patienten offensteht, die Pflegekraft dort agiert selbstständig – wodurch auch der Pflegeberuf erneuert und gestärkt wird. „Das sind gerade sehr heiße politische Themen“, sagt Dr. Tobias Gantner. „Aber wir haben zu lang weggeschaut und müssen uns diesen Herausforderungen stellen.“
Das Konzept der OhneArztPraxis wird laufend weiterentwickelt. Derzeit ist auch eine OhneFacharztPraxis (Neurologie) im Praxisbetrieb, außerdem sollen künftig Digitale Residenzpraxen in Altenheimen eingerichtet werden. Hier erfahren Sie mehr über die OhneArztPraxis