Neben Privatpersonen geraten immer wieder Politiker:innen ins Visier von Hater:innen im digitalen Raum. © Mika Baumeister | Unsplash
Seit über fünf Jahren prozessiert die Grünenpolitikerin Renate Künast gegen den bundesweit bekannten Rechtsextremisten Sven Liebich. Er hatte 2016 unter anderem ein Falschzitat der Politikerin auf seinem Blog und bei Facebook verbreitet, woraufhin Künast erheblich im Netz beleidigt und beschimpft wurde. Das ist nur ein Beispiel für mehrere Tatbestände der Verleumdung und Volksverhetzung, die Liebig zu Last gelegt werden. Er wiederum beruft sich auf die Kunst- und Meinungsfreiheit. Gegen eine erstinstanzliche Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten legte er Berufung ein. Bei weitem kein Einzelfall – selbst wenn das Opfer prominent ist, gestaltet es sich oft schwierig, die Täter im Netz zur Rechenschaft zu ziehen, und die Prozesse sind langwierig.
Bei Politiker:innen ist die Meinung, sie müssten Beschimpfungen im Netz als Personen des öffentlichen Lebens über sich ergehen lassen, weit verbreitet. 2019 hatte das Berliner Landgericht in einem ersten Urteil gegen Renate Künast gerichtete Begriffe – darunter „Decksschwein“ oder „Stück Scheiße“ – als zulässig erklärt. Künast erzielte in diesem Zusammenhang aber im Februar 2022 einen Sieg vor dem Bundesverfassungsgericht.
Das Problem, dass die vielfältigen Möglichkeiten, im Netz der eigenen Meinung Gehör zu schaffen, als Schattenseite Beleidigungen und Verunglimpfungen Tür und Tor öffnet, scheint sich immer weiter zu verschärfen. In einer im August 2022 veröffentlichten Studie der Universität Leipzig ist der Anteil der Befragten, die bereits Beleidigungen, Drohungen oder Hasskommentare im Netz erlebt haben, innerhalb von zwei Jahren um 6 Prozent auf 24 Prozent gestiegen. Laut der Strafrechtlerin und Studienleiterin Prof. Dr. Elisa Hoven ziehen sich aus Sorge vor Hass im Netz immer mehr Menschen aus dem öffentlichen Diskurs zurück. „Am häufigsten mit Hass im Netz konfrontiert sind jüngere Personen: Bei den 16 bis 22-Jährigen gab die Hälfte der Befragten an, bereits selbst zum Ziel von Hasskommentaren geworden zu sein. Das deutet darauf hin, dass es sich um ein Phänomen handelt, das auch in den kommenden Jahren noch verstärkt auftreten wird“, sagt sie.
Andere Studien kommen zu nicht weniger erschreckenden Ergebnissen. Die von der Bayerischen Staatsregierung in Auftrag gegebene Hate-Speech-Bilanz 2021 verzeichnet 2.317 neue Verfahren wegen Hass im Netz – 41 Prozent mehr als im Vorjahr. „Hass und Hetze im Netz haben ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Es hat sich eine echte Gefahr für die Demokratie entwickelt. Die Corona-Pandemie hat dies verstärkt. Wer die Meinungsfreiheit und die Demokratie schützen will, muss Hass im Netz konsequent bekämpfen”, betonte Bayerns Justizminister Georg Eisenreich bei der Vorstellung der Bilanz.
Keine Auskunft gibt die Studie darüber, ob der Anstieg der Fälle allein mehr Hass im Netz widerspiegelt, oder auch ein Anzeichen dafür ist, dass sich mehr Menschen dagegen wehren. Sicherlich spielt dabei auch eine Rolle, dass die Hürden, um Beleidigungen im Netz zu melden, gesunken ist. So hat beispielsweise Bayern ein Online-Meldeverfahren für alle Bürger eingerichtet. Auch Baden-Württemberg betreibt die Online-Meldestelle „respect!“.
Ein Lichtblick ist, dass auch die Bereitschaft, solche Situationen nicht einfach hinzunehmen, steigt. 66 Prozent gaben an, Hass im Netz nicht einfach nur mitzulesen und hinzunehmen, sondern aktiv zu werden und Hass-Kommentare bei unabhängigen Meldestellen anzuzeigen.
Von den zahlreichen öffentlichen und privaten Anlaufstellen, um Hass und Hetze im Netz zu melden und damit gegenzusteuern, wird also Gebrauch gemacht. Und auch Gesetzgebung und Justiz sind fortwährend mit dem Thema beschäftigt. Beratungsangebote setzen allerdings noch früher an, wollen sensibilisieren, im Umgang mit Hass und Hetzte schulen und die – potenziellen – Opfer stärken, damit es in manchen Fällen erst gar nicht zu Straftatbeständen kommt oder deeskaliert werden kann.
Die gemeinnützige Körber-Stiftung hat beispielsweise das Online-Portal „Stark im Amt – Portal für Kommunalpolitik gegen Hass und Gewalt“ für Amtsträger eingerichtet. Sie kam 2021 durch eine repräsentative Umfrage zu dem Schluss, dass mehr als die Hälfte der rund 1600 befragten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister schon einmal wegen ihres Amtes Beleidigungen, Drohungen oder tätliche Angriffe erlebt hatten. Das Portal berät zu Prävention, Online-Hetze und persönlichen Bedrohungen, macht mit Erfahrungsberichten anderer Mut und will auch zur Vernetzung betroffener Kommunalpolitiker:innen beitragen. Dazu listet es auch zahlreiche weitere Anlaufstellen auf Bundes- und Länderebene auf, die weitergehende Unterstützung leisten.
Da Kommunalpolitiker:innen eine wichtige Funktion für die freie Meinungsbildung und gelebte Demokratie erfüllen, ist es besonders wichtig, dass sie sich ohne Angst frei äußern und sich für die Belange aller Bürger:innen einsetzen können. Auf persönlicher Ebene wiegen aber natürlich die Schicksale der Opfer außerhalb der öffentlichen Bühne nicht minder schwer. Mit HateAid gründete sich 2018 die erste Beratungsstelle für Opfer digitaler Gewalt. Mitglieder beider Gründervereine – der Verein Fearless Democracy e.V. und die Bürgerbewegung Campact e.V. – hatten sich zuvor bereits gegen Hetze im Netz engagiert und waren teilweise selbst Opfer von Hassattacken geworden.
„Eine gesunde Demokratie funktioniert nur, wenn sich alle im Netz sicher fühlen, am öffentlichen Diskurs teilzunehmen“, so die Überzeugung von HateAid. Das durch öffentliche Förderung und private Spenden finanzierte Beratungsangebot richtet sich unbürokratisch an alle, die von Hass im Netz betroffen sind. Per Telefon oder Mail kann sich jeder an das Expertenteam wenden, das Notfalltipps, Verhaltensstrategien und wichtige Infos zu möglichen Schritten bereithält.
Die Website der Organisation hateaid.org stellt mit seinem umfangreichen Informationsangebot eine wichtige Quelle dar, um Hass im Netz zu verstehen, einzuordnen und dagegen vorzugehen. Dort gibt es nicht nur Links zu weiterführenden Angeboten, zum Beispiel für bestimmte Zielgruppen wie Jugendliche, Frauen, LGBTIQ, Menschen mit Behinderungen usw. Der Internetauftritt informiert auch in einem Online-Magazin über Tendenzen und Phänomene im Netz, erklärt was dahintersteckt und stellt klar, was davon strafbar ist. Was mache ich bei einem Shitstorm? Wie erstelle ich Screenshots, die vor Gericht Bestand haben? Wie funktioniert Counterspeech? Wann ist der Straftatbestand Volksverhetzung erfüllt? Was sind Incels? Wie erkenne ich einen Romance Scam? Über die HateAid App kann jeder Fälle von Hass und Hetze im Netz melden, ganz gleich, ob er selbst betroffen ist oder nicht.
Aufklären ist wichtig, Handeln noch wichtiger. HateAid engagiert sich auch politisch auf Bundes- und EU-Ebene, startet Kampagnen und Aktionen und nimmt zu Vorhaben und Entscheidungen Stellung. Betroffene, die sich entscheiden, vor Gericht gegen Hass im Netz vorzugehen, unterstützt die Organisation unter Umständen auch finanziell. Dazu spenden Menschen, die erfolgreich mit Hilfe von HateAid Schmerzensgelder eingeklagt haben, Geld an den Fonds zurück, damit weitere Gerichtsverfahren finanziert werden können.
7 schnelle Tipps zur Gegenwehr gegen Hatespeech gibt es hier.