Flächendeckende medizinische Versorgung durch Telemedizin - Digitales Bürgernetz

„Jederzeit und überall die bestmögliche Versorgung sichern“ – Telemedizin in Deutschland

#Gesundheit 11. November 2022

Nadja Pecquet, Geschäftsführerin des VkH.NRW © VkH.NRW

Frau Pecquet, was bietet das Virtuelle Krankenhaus NRW?

Über unsere Telekonsil-Plattform bieten wir in ausgewählten Indikationen medizinische Expertise aus derzeit sechs hochspezialisierten Zentren den über 100 bereits angeschlossenen Krankenhäusern an.

Das bedeutet, dass sich behandelnde Ärztinnen und Ärzte in Bereichen, in denen spezielles Fachwissen in solchen ausgewiesenen Zentren gebündelt ist, dort auf digitalem Wege Unterstützung holen können, wenn sie Patienten mit den entsprechenden Erkrankungen behandeln. Aktuell umfasst das Konsilangebot die Bereiche COVID-19 im Fall von intensivpflichtig Erkrankten, resektable Lebertumore, seltene Erkrankungen und therapierefraktäre Herzinsuffizienz. Ziel ist es, unser Angebot mit weiteren Indikationen und Zentren zu erweitern und weitere Kliniken als Nutzer zu gewinnen. Künftig möchten wir auch verstärkt Nutzer aus dem ambulanten Sektor für unser Netzwerk gewinnen.

Ein Konsil an sich ist in der Medizin nichts Neues. Was ist das Besondere am Virtuellen Krankenhaus?

Das NRW Gesundheitsministerium hat das Virtuelle Krankenhaus ins Leben gerufen, um ein Netzwerk aus Experten und regionalen medizinischen Einrichtungen aufzubauen. Fachärztliches Spezialwissen soll damit allen Patientinnen und Patienten wohnortunabhängig zur Verfügung stehen. Menschen dürfen nicht aufgrund regionaler Unterschiede in den Versorgungsstrukturen an einem Ort Telemedizin profitieren, während andere abgehängt sind.

Das Besondere ist sicherlich die zentrale, strukturierte, digitale Plattform. Wir schaffen die nötige Infrastruktur und beraten die Teilnehmer bei der technischen und organisatorischen Anbindung. Wir arbeiten mit Standards, die eine Vernetzung und Austausch unter Berücksichtigung der Datenschutzbestimmungen ermöglichen.

Viele Innovationen in der medizinischen Versorgung schaffen es nie in die Fläche, weil mit dem Ende des Pilotprojekts auch die Finanzierung ausläuft. Das Virtuelle Krankenhaus setzt daher von Beginn an auf Instrumente der Regelversorgung, das heißt die Leistungen der Ärztinnen und Ärzte werden von den Krankenkessen übernommen. Für alle Indikationen wird die Expertise qualitätsgesichert und bedarfsorientiert von den vom nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium im Rahmen der Krankenhausplanung ausgewiesenen Zentren zur Verfügung stellt.

Wie kam es zu dieser erfolgreichen Entwicklung?

Das haben wir – wenn man dem etwas Positives abgewinnen darf – zum Teil der Pandemie zu verdanken. Ein Projekt zur Förderung neuer Versorgungsformen an den Unikliniken Aachen und Münster, TELnet@NRW, war gerade zum Abschluss gekommen. Es war aus dem Innovationsfonds der Krankenkassen finanziert worden und hätte nun eigentlich keine weitere Förderung mehr erhalten. Dann kam Corona. Das Land hat sofort erkannt, welch ein Glücksfall es war, dass durch dieses Projekt die nötigen Strukturen für Telekonsile vorhanden waren. Es gab sofort Geld aus dem Pandemietopf.

Die Unikliniken in Aachen und Münster starteten mit Telekonsilen zu schwer erkrankten Covid-19-Patienten. Der Ansatz war ein großer Erfolg. Eine Studie hat im Nachgang gezeigt, dass die Sterblichkeit bei intensivpflichtigen, beatmeten Patienten mit Covid-19 bei denen, die im Rahmen dieser Konsile behandelt wurden, um 20 Prozent niedriger war als im Bundesdurchschnitt. Knapp 4.000 Konsile für 600 Covid-Patienten haben die Zentren mittlerweile durchgeführt.

Dadurch konnten sich die Telekonsile etablieren und wir haben das Virtuelle Krankenhaus ins Leben gerufen und im Rahmen des Pilotbetriebs nach und nach um drei geeignete Therapiegebiete erweitert. Insgesamt ist durch die Pandemie das Vertrauen in digitale Technologien und die Bereitschaft, die Digitalisierung als Mittel in der medizinischen Versorgung und darüber hinaus zu nutzen enorm gestiegen – sowohl bei Ärzten als auch bei der allgemeinen Bevölkerung.

Eine Ärztin spricht per Tablet mit einer Patientin.
Mithilfe von Telekonsilen können Krankenhäuser auf Fachwissen zurückgreifen, das zur Verfügung gestellt wird. Sie können dabei helfen zu entscheiden, ob ein Patient verlegt werden muss und verbessern darüber hinaus auch die Behandlung vor Ort. © Westend61 | getty images

Wie verbessert das Virtuelle Krankenhaus die medizinische Versorgung unabhängig von den Herausforderungen der Pandemie?

Corona ist ja nur ein Beispiel dafür, wie wichtig es sein kann, dass Ärzte sich gegenseitig unterstützen, sich Rat bei Spezialisten holen und dabei durch den digitalen Weg Zeit und Aufwand sparen. Bei vielen Erkrankungen ist die Thematik zu speziell, um flächendeckend über ausreichende Fachexpertise zu verfügen. In der Pandemie gab es beispielsweise viel zu wenige Infektiologen. Deren Wissen digital flächendeckend verfügbar zu machen, war daher ein wichtiger Schritt.

Das gilt aber eben auch für andere Bereiche. So gibt es zum Beispiel nur ganz wenige Zentren für schwere Fälle von Herzinsuffizienz. Durch Telekonsile können andere Krankenhäuser auf dieses Spezialwissen zugreifen. Das hilft auch, zu entscheiden, ob ein Patient wirklich verlegt werden sollte – ohne dass er sich persönlich in einem weit entfernten Zentrum vorstellen muss. Zudem verbessern Telekonsile aber auch die Behandlung vor Ort und können so nicht nur Wege und Kosten einsparen, sondern auch dazu beitragen, Leben zu retten.

Langfristig ist es für uns wichtig, auch solche Indikationen über das Virtuelle Krankenhaus abzudecken, die häufig genug vorkommen, damit sich die Krankenhäuser und Ärzte an die Abläufe unserer Plattform gewöhnen. Die Hemmschwelle muss sinken, damit die Anfrage von Telekonsilen zur Normalität wird. Damit tragen wir auch insofern zur Sicherung der medizinischen Versorgung bei, als dass wir die Tätigkeit von Ärzten im ländlichen Raum wieder attraktiver machen. Denn wenn Ärzte auch in entlegenen Regionen die Möglichkeit haben, mit Fachzentren und Top-Spezialisten zusammen zu arbeiten, kann das ein Anreiz sein, sich im ländlichen Raum niederzulassen. Damit stützt das Virtuelle Krankenhaus die regionalen Strukturen.

 

Man hört immer wieder, dass Deutschland im Bereich Telemedizin hinterherhinkt. Worin bestehen die Hürden?

Es ist richtig, dass viele Studien zur Digitalisierung Deutschland relativ weit hinten sehen, vor allem im Vergleich zu den skandinavischen Ländern. Der Vergleich hinkt aber, denn wir müssen bedenken, dass dort ganz andere Gegebenheiten herrschen. Durch die großen Distanzen und geringere Bevölkerungsdichte ist die medizinische Versorgung in einigen Regionen nicht so engmaschig vorhanden, wie wir es glücklicherweise in Deutschland gewohnt sind. Diese Länder waren also seit Langem darauf angewiesen, digitale Wege stärker zu nutzen.

Eine große Hürde stellt die Interoperabilität der Systeme dar. In Deutschland stehen viele Systemanbieter miteinander im Wettbewerb, wollen ihr Geschäft sichern und blockieren daher die Kompatibilität mit anderen Systemen. Das erschwert die Vernetzung enorm und ist auch der Grund, warum wir beim Virtuellen Krankenhaus auf Standards und offene Schnittstellen setzen.

Ändern muss sich in Deutschland aber auch die Einstellung. Der Arztberuf an sich ist hier noch nicht stark genug auf Kooperation ausgelegt. Ein gut ausgebildeter Arzt mit hohem Ansehen muss davon überzeugt werden, welche Vorteile die Zusammenarbeit mit anderen Kollegen hat. Glücklicherweise sehen wir aber hier ein Umdenken bei der jüngeren Generation, die sich im Arztberuf stärker vernetzen und kooperieren möchte. Deshalb müssen die Telemedizin, die Modelle am Markt und die verfügbaren digitalen Tools auch Teil der medizinischen Ausbildung werden.

 

Welche Vision haben Sie für die Telemedizin?

Meine Vision lautet, jederzeit und wohnortunabhängig die bestmögliche Versorgung zu garantieren. Dazu müssen wir über Plattformen qualitätsgesicherte Angebote und Technologien zur Verfügung stellen. Ich würde mir wünschen, dass diese Plattformen langfristig auch andere Anbieter im Gesundheitswesen miteinbezieht, beispielsweise aus der Geburtshilfe, der Palliativmedizin oder der Physiotherapie.

Vor allem müssen wir erreichen, dass Ärzte und Patienten um die vielfältigen Möglichkeiten der digitalen Vernetzung wissen. Ich sollte mich als Patient informieren können, welcher Arzt digital vernetzt ist und mir damit mehr bieten kann. Und wir müssen Vertrauen aufbauen – vor allem in die Sicherheit der Daten. Für viele ist der Datenschutz immer noch das Totschlagargument gegen die Telemedizin. Natürlich stellt er eine Herausforderung dar, aber gelebter Datenschutz im Netzwerk ist machbar!

Artikel Teilen